Wie ein 100-Jahre altes Konzept die (betriebliche) Gesundheitsförderung revolutionieren kann.
Experimentierkästen sind Wissenschaft für zu Hause. Ursprünglich kreiert für Mädels und Jungs, um die Faszination der Chemie, Physik, Elektronik und anderer Themen zu entdecken.
Nun stellen Sie sich einen Experimentierkasten Lifestyle-Medizin vor.
Zum Biohacking lebenslanger Gesundheit und Funktionsfähigkeit.
Fesselnd, verstehbar, und narrensicher, lernen Nutzer ihren Lebensstil so auf ihre jeweilige Erbanlage zuzuschneiden, dass sie „chronisch gesund“ bleiben (oder werden), und beneidenswert fit, selbstbestimmt und funktionsfähig durchs Alter kommen.
Wie im richtigen Labor
Der Experimentierkasten Biohacking fährt die gleichen drei Werkzeuge auf, mit denen Forscher aus Hypothesen klinische Studien bauen:
- Eine Medizin (von der man sich erhofft, dass sie wirkt),
- Einen Vitalparameter, um die Wirkung der Medizin zu messen,
- Statistische Methoden, um den richtigen Schluss aus den Messdaten zu ziehen.
Das ist schon alles. Fast alles, denn mit dem „Experimentierkasten“ muss jeder Laie sich selbst zur klinischen Studie machen können.
Deshalb stecken im „Experimentierkasten Biohacking“ die laientauglich gemachten Versionen der drei Werkzeuge:
- Lebensstilmedizin: zum Selbermachen,
- Vitalparameter-Feedback: mit Wearables und mobilen Health Technologien,
- Individualisierung: N-of-1 Medizinstatistik, mit der man sich selbst zur 1-Mann (oder -Frau) klinischen Studie macht.
Warum gerade die drei?
Die Antworten dazu kennen wir seit Jahrzehnten:
- Lebensstilmedizin: weil Bluthochdruck, Diabetes, Adipositas und deren scheußliche Konsequenzen (Herzinfarkt, Schlaganfall, Demenz, Krebs, Gebrechlichkeit) überwiegend selbstverschuldet sind. Durch ein krankmachendes Gesundheitsverhalten.
- Messbare Vitalparameter: weil sie die Rückmeldung zu den Konsequenzen des Gesundheitsverhaltens geben. Auch nichts Neues, denn nur was man messen kann, kann man auch verbessern.
- Individualisierung: weil nicht jedes Gesundheitsverhalten bei jedem die gleichen zukünftigen Konsequenzen hat.
Verschweißt man die drei korrekt miteinander (siehe Grafik), entsteht daraus praktische Gesundheitskompetenz — für einen selbst.
Das ist die, die man braucht, um aus dem Gewirr der Gesundheitsempfehlungen jene herauszupicken, die einen lebenslang gesund und funktionsfähig halten.
Aber brauchen wir das überhaupt?
Wir stecken doch schon so viel Geld und Mühe in die Prävention und die Vermittlung von Gesundheitskompetenz.
Zum Geld
Sind 7,52 Euro wirklich viel? Das jedenfalls ist der Betrag, den Krankenkassen PRO JAHR UND PRO VERSICHERTEM für die „primäre Prävention und Gesundheitsförderung“ ausgeben DÜRFEN (§ 20 SGB V).
Also, noch ein bisschen weniger als die im Teil 1 dieses Artikels erwähnten 15 US$, die die Bank of America Anfang der 90er Jahre für Informationsmaterial ausgegeben hatte, mit dem sie ihre Pensionäre gesünder halten wollte.
Zur Mühe
Würde unsere Gesundheitsförderung funktionieren, müssten ihre Bürokraten sie nicht auf das „betriebliche Setting“ abwälzen (Bürokratensprech für „Unternehmen“), denn wir hätten erst gar keine Epidemie der vermeidbaren chronischen Krankheiten (Fettleibigkeit, Herz-Kreislauferkrankungen, Diabetes, Bluthochdruck etc.).
O-Ton Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA):
„Der Settingansatz stellt die Kernstrategie der Gesundheitsförderung dar. Er ist eine Antwort auf die beschränkten Erfolge traditioneller Aktivitäten zur Gesundheitserziehung, die sich mit Information und Appellen an Einzelpersonen wenden.“
Da stecken gleich zwei Offenbarungseide drin:
Erstens, dass die „traditionellen Aktivitäten“ so gar nicht erfolgreich sind.
Und, zweitens, dass die Betriebe offenbar eine Kompetenz in der Gesundheitsförderung haben, die den eigentlichen „Akteuren“ des Gesundheitswesens wundersamerweise fehlt. Warum sonst sollte man die Gesundheitsförderung auf das „betriebliche Setting“ übertragen wollen?
Einem Setting wohlgemerkt, in dem auch der fleißigste Mitarbeiter nicht mehr als 20% seiner Zeit verbringt.
Gesundheitskompetenz ist Fehlanzeige.
Zurück zur Gesundheitserziehung: Mit ihr eng verbunden ist die Gesundheitskompetenz der so Erzogenen.
Die ist bei den Deutschen so grottenschlecht, dass mehr als die Hälfte (54%) der Bürger…
„ …vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt [ist], wenn es darum geht, … sich im Alltag stellende Herausforderungen der Gesundheitserhaltung anzugehen und dazu erforderliche Entscheidungen zu treffen“ [1]
Das ist Akademikerwelsch für „gesund ernähren, bewegen, und nicht dick werden”.
Diese Erkenntnis haben wir nun offiziell seit 2016.
Aus ihr strickte das Bundesgesundheitsministerium 2018 den Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz. Dessen, wahrscheinlich gut dotierte, Experten und Expertinnen leisten 3 Jahre später den Offenbarungseid:
aus „grottenschlecht“ ist „noch schlechter“ geworden. Aus 54% wurden knapp 60% [2].
Das kommt dabei heraus, wenn Gesundheitsbürokraten das tun, was sie nicht können: Gesundheitskompetenz vermitteln.
Was Nun?
Heißt das nun, dass wir nur die Gesundheitskompetenz jener Leute verbessern müssen, die mit zu viel Fett auf der Hüfte und zu wenig Grips im Kopf das Kassenband beim Discounter mit Limos und Tiefkühlpizzen beladen?
Nö.
Denn auch in einer wunschgemäß komplett gesundheitskompetenten Bevölkerung würde ein immer noch erheblicher Anteil der Menschen chronisch krank werden.
Erstens, Die Unbelehrbaren
Das sind jene Zeitgenossen, denen die zu erwartenden Nachwehen eines ihnen bekannt abträglichen Gesundheitsverhaltens wurscht sind, obwohl sie’s besser wissen müssten. Die erreicht weder der Gesundheitsminister noch der Arbeitgeber.
So hatte die Universität Michigan zwischen 2015 und 2019 ihren insgesamt 8.000 vordiabetischen bzw. adipösen Beschäftigten die kostenfreie Teilnahme am Nationalen Diabetespräventionsprogramm (NDPP) angeboten.
Nur jeder Zehnte nahm das Angebot an. Nach 6 Monaten hatte ein Viertel dieser Teilnehmer das Handtuch geworfen. Und nur jeder Dritte der ursprünglich knapp 800 Teilnehmer hielt bis zum Schluss durch [3].
Zweitens, Die Falsch Bedienten
Das sind die Willigen, denen die Gesundheitskompetenz, so wie die Akteure des Gesundheitswesens sie definieren, leider nichts bringt.
Die leitet sich nämlich immer und ausschließlich aus Studien ab, die als allgemeingültig propagiert werden, obwohl sie belegen, wie wenig allgemeingültig sie tatsächlich sind.
Dieses Phänomen der Nicht-Übertragbarkeit von Gruppen-basierten Studienergebnissen auf den Einzelnen ist zwar wohlbekannt und dokumentiert [4].
Von den Akteuren des Gesundheitswesens wird es aber so erfolgreich verdrängt, dass man sich fragen muss, ob diese mehrheitlich unter einer Art selektiver Tatsachenwahrnehmung leiden.
Den Durchschnittspatienten gibt’s nicht
Zwei klassische Beispiele:
Beispiel 1:
Die Empfehlung, möglichst wenig Salz zu essen, um Bluthochdruck zu vermeiden, half in einer Studie einigen viel, vielen wenig, und schadete jenen, die umgekehrt salzsensitiv sind [5].
Ja, die gibt’s, und das sind keine seltenen Exoten, sondern zwischen 10 und 15% der Bevölkerung [6].
Beispiel 2:
Sport als Strategie zur Gewichtsreduktion funktioniert bei manchen, bei anderen aber nicht. Die Differenzen zwischen den Teilnehmern einer Studie waren trotz engmaschiger Kontrolle des Bewegungspensums so groß, dass ein über die Teilnehmergruppe errechneter Durchschnittswert keine Aussagekraft für einen individuellen Patienten mehr hat [7].
Den Durchschnittsteilnehmer, und ergo Durchschnittspatienten, gibt’s also leider nicht.
Ein Expertennetzwerk der Europäischen Gesellschaft für Präventive Kardiologie kam deshalb erst kürzlich zu dem Schluss, dass (a) one-size-fits-all Empfehlungen zu präventivem Sport unzureichend sind für eine wirksame Prävention, und dass (b) die Ärzte noch deutlichen Lernbedarf für die Individualisierung haben [8].
Die Statistik gibt’s auch nicht her.
Nicht etwa, weil man im Mutterland der Datenschutzneurose (Deutschland) wenige belastbare Statistiken zu Gesundheitsverhalten und Bevölkerungsgesundheit findet. Hätten wir diese, würden sie aber auch nicht anders ausfallen als in den USA.
Dort hat die American Heart Association 2010 einen Score der idealerweise zu erreichenden Vitalparameter und Gesundheitsverhalten definiert — Life’s Simple 7 (LS7) bestehend aus Blutdruck, Cholesterin, Blutzucker, Übergewicht, Rauchen, Ernährung und Bewegung.
Aus LS7 wurde 2022 Life’s Essential 8 (LE8), denn Schlaf kam als 8. Kriterium dazu.
Das Schöne an diesen Scores ist, dass man daraus einen Gesamtpunktestand (miserabel, mäßig, mega) ermitteln, und dessen Einhaltung mit dem Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen vergleichen kann (also genau jenen Erkrankungen, die man mit einem „mega“ Score vermeiden will) [9].
Ich habe die Studie detaillierter in einem anderen Beitrag vorgestellt.
Die nachfolgende Grafik illustriert die Ergebnisse.
Was die mit erhobenem Zeigefinger wedelnden Gesundheitsgouvernanten daraus machen, ist klar.
Weniger klar ist, warum sie sich um die Beantwortung zweier logischer Fragen drücken:
- Warum kommen mehr als zwei Drittel der Zeitgenossen mit dem Prädikat „mäßig“, und immerhin jeder zweite „miserable“, ungeschoren davon (ohne Herzinfarkt etc.)?
- Warum schaffen nur weniger als 1% der Bevölkerung das Lifestyleprädikat „mega“, obwohl wir doch so viel für die Gesundheitskompetenz tun?
Die Antwort auf Frage 1 ist erschütternd einfach: weil eben jeder Mensch ein Unikat ist aus Erbanlage, Stoffwechsel, Mikrobiom, und Umwelt. Und Unikate reagieren eben nicht gleich auf die gleichen Gesundheitsverhalten.
Glück im Unglück
Bewertet mit einem 3er-Score lassen sich die 8 Zielgrößen des LE8 auf 6561 unterschiedliche Arten kombinieren (das ist simple Kombinatorik).
Da müsste Frage 1 eigentlich heißen, wie kommt es, dass bei so vielen Möglichkeiten, die falsche Kombination zu treffen, dieses Los doch relativ vielen Zeitgenossen erspart bleibt?
Weil das komplexe System „Mensch“ eben erstaunlich robust ist.
Die ausführliche Antwort dazu habe ich in einem Artikel in der Fachzeitschrift Heart, Lung and Circulation gegeben [10].
Die Schlussfolgerung:
wir müssen nicht alle Gesundheitsempfehlungen religiös einhalten, sondern jene finden, die so zu uns passen, wie wir gestrickt sind.
Und damit ergibt sich auch die Antwort auf Frage 2: Den „mega“ Score schaffen nur so wenige, weil er weltfremd ist, und weil den Menschen die (sich oft widersprechenden) Gesundheitsempfehlungen zum Hals heraushängen.
Da hilft es nichts, die immer gleichen Mantras in einem Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz weiterzubeten.
Praktische Gesundheitskompetenz die zählt
Was wir erreichen müssen, ist es, jedem zu helfen, den zu seinem „Unikat“ passenden Lifestyle zu finden.
Das ist praktische Gesundheitskompetenz, die zählt: die für einen selbst.
In den Durchschnittstudien findet man sie jedenfalls nicht.
Deshalb kann Ihnen auch kein Arzt im Voraus sagen, ob Salzabstinenz oder ein Medikament Ihren Blutdruck senken wird. Nicht einmal 3 Monate später, wenn Sie zur Nachuntersuchung kommen.
Die simple Vorher-nachher Gafferei unseres Gesundheitssystems ist so ungenau wie wissenschaftsbefreit. Ich habe dieses Phänomen in einem anderen Artikel genauer beschrieben.
Erstaunlicherweise kennt die klinische Forschung längst das Bollwerk gegen die Niederlagen der Präventionsmedizin. Es heißt N-of-1 study, oder Einzelfallexperiment auf deutsch (das N steht für die Zahl der Teilnehmer einer klinischen Studie).
Vitalparameter: Film statt Schnappschuss
N-of-1 ersetzt den Vorher-nachher Schnappschuss durch einen Film, der in Echtzeit zeigt, wie eine Intervention auf jene Vitalparameter wirkt, die die lebenslange Gesundheit und Funktionsfähigkeit vorhersagen.
Moderne mHealth Technologien und Wearables machen diese „Verfilmung“ heute möglich.
Und so wird aus der Kombination von Lifestylemedizin, N-of-1 basierter Individualisierung, und Vitalparametermonitoring die praktische Gesundheitskompetenz, die zählt.
Warum also sollen wir uns immer noch dem One-Size-Fits-All Fimmel der Gesundheitsbürokraten beugen?
Dass N-of-1 im Curriculum der Mediziner fehlt liegt nicht etwa an den fortschrittbremsenden Gralshütern der Medizin — der FDA und ihrem europäischem Zwilling EMA. Selbst die haben die Methode längst als Goldstandard der klinischen Forschung anerkannt.
Wie wir das „Biohacking lebenslanger Gesundheit und Funktionsfähigkeit“ laientauglich, DSGVO konform, und auch für Gewerkschaften verdaulich auf die Beine stellen, ist Thema von Teil 3 dieses Artikels.
Und auch, wie dieser Experimentierkasten als „Fettabscheider“ für die Entsorgung unwirtschaftlicher BGF Maßnahmen dienen kann.
PS:
Der erste Experimentierkasten Elektrotechnik kam 1922, also vor genau 100 Jahren, heraus. Damals von der Firma Kosmos. Lassen Sie uns jetzt gemeinsam den Experimentierkasten Biohacking herausbringen.
Referenzen
[1] Doris Schaeffer A, Vogt D, Berens E-M, Hurrelmann K. Ergebnisbericht GESUNDHEITSKOMPETENZ der Bevölkerung in Deutschland. 2016.
[2] Schaeffer D, Berens E-M, Gille S, Griese L, Klinger J, de Sombre S, et al. Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland — vor und während der Corona Pandemie: Ergebnisse des HLS-GER 2. 2021.
[3] Herman WH, Villatoro C, Joiner KL, McEwen LN. Uptake, retention, and outcomes of the National Diabetes Prevention Program by enrollee characteristics and program type. Diabetes Res Clin Pract 2023:110835. doi:10.1016/j.diabres.2023.110835.
[4] Fisher AJ, Medaglia JD, Jeronimus BF. Lack of group-to-individual generalizability is a threat to human subjects research. Proc Natl Acad Sci U S A 2018;115:E6106–15. doi:10.1073/pnas.1711978115.
[5] Juraschek SP, Miller ER, Weaver CM, Appel LJ. Effects of Sodium Reduction and the DASH Diet in Relation to Baseline Blood Pressure. J Am Coll Cardiol 2017;70:2841–8. doi:10.1016/j.jacc.2017.10.011.
[6] Felder RA, Gildea JJ, Xu P, Yue W, Armando I, Carey RM, et al. Inverse Salt Sensitivity of Blood Pressure: Mechanisms and Potential Relevance for Prevention of Cardiovascular Disease. Curr Hypertens Rep 2022;24:361–74. doi:10.1007/s11906–022–01201–9.
[7] King NA, Hopkins M, Caudwell P, Stubbs RJ, Blundell JE. Individual variability following 12 weeks of supervised exercise: identification and characterization of compensation for exercise-induced weight loss. Int J Obes 2007.
[8] Hansen D, Coninx K, Beckers P, Cornelissen V, Kouidi E, Neunhauserer D, et al. Appropriate exercise prescription in primary and secondary prevention of cardiovascular disease: why this skill remains to be improved among clinicians and healthcare professionals. A call for action from the EXPERT Network. Eur J Prev Cardiol 2023:zwad232. doi:10.1093/eurjpc/zwad232.
[9] Folsom AR, Yatsuya H, Nettleton JA, Lutsey PL, Cushman M, Rosamond WD, et al. Community Prevalence of Ideal Cardiovascular Health, by the American Heart Association Definition, and Relationship With Cardiovascular Disease Incidence. J Am Coll Cardiol 2011;57:1690–6. doi:10.1016/j.jacc.2010.11.041.
[10] Kraushaar LE, Bauer P. Dismantling Anti-Ageing Medicine: Why Age-Relatedness of Cardiovascular Disease is Proof of Robustness Rather Than of Ageing-Associated Vulnerability. Heart Lung Circ 2021. doi:10.1016/j.hlc.2021.05.105.